13-11-06 - Mühlacker Tagblatt (Mantelteil Stuttgarter Nachrichten) - Baden-Württemberg - Strahlenunfall in Neckarwestheim

Beim Austausch defekter Brennstäbe kommt es im Kernkraftwerk zum Austritt von Radioaktivität

Aus dem Kernkraftwerk in Neckarwestheim ist Ende Oktober deutlich erhöhte radioaktive Strahlung ausgetreten. Die Werte erreichten das 23-Fache der sonst als üblich bezeichneten Menge. Gefahr für die Bevölkerung bestand laut dem Umweltministerium allerdings nicht.

Von Sascha Schmierer

NECKARWESTHEIM. Wegen Abschaltung und Rückbau war in jüngster Zeit vor allem der 1976 erbaute Block I des Kernkraftwerks in Neckarwestheim in den Schlagzeilen. Jetzt allerdings beschäftigt sein 1989 in Dienst gestellter jüngerer Bruder die Atomaufsicht und den Energiekonzern EnBW. Kurz nach der regilären Revision trat Ende Oktober radioaktive Strahlung aus dem Abluftkamin des am Rande der Region Stuttgart liegeenden Atommeilers aus. Die in die Luft entweichende Dosis betrug das 23-fache der als sonst üblich bezeichneten Menge.

Auslöser der nuklearen Emissionen war eine offensichtlich dringend nötige Schnellreparatur. Um ein defektes Brennelement austauschen zu können, musste der Reaktor Ende Oktober kontrolliert in den Ruhezustand versetzt werden, der Deckel des Druckbehälters wurde nur zwei Wochen nach dem Abschluss der Revision erneut geöffnet. Bei der Inspektion kam es zu dem massiven Anstieg der aus dem Atommeiler im Neckartal entweichenden Strahlung.

Aufgefallen ist die deutliche Erhöhung den lokalen Anti-Atomkraft-Aktivisten. Sie verflgen die auf der Internetseite des Landesumweltministeriums veröffentlichten Messergebnisse mit Argusaugen - schließlich lässt sich an den Zahlenkolonnen auch ablesen, ob im Kraftwerksbetrieb etwas aus dem Ruder lief. "Am 27. Oktober schlugen die Zeiger auf 7,244 Milliarden Becquerel aus - das ist der 23-fache Wert der üblichen Dosis", erklärt Franz Wagner vom Aktionsbündnis Energieende [sic] Heilbronn das Resultat der Reparaturarbeiten. Er sieht die außerplanmäßige Abschaltung des Atommeilers als einen Skandal an: "Ohne die Bevölkerung zu warnen oder zu informieren wird der Deckel des Druckbehälters geöffnet", lautet sein Vorwurf an die Adresse von Kraftwerksbetreiber und Atomaufsicht.

Das für die Kontrolle des Kernkraftwerks Neckarwestheim verantwortliche Umweltministerium sieht in dem Brennelemente-Tausch allerdings keinen besorgniserregenden Zwischenfall: "Die beim Öffnen des Reaktordruckbehälters abgegebenen Werte für Radionuklide lagen unter 0,1 Prozent der für den Betrieb genehmigten Tageswerte", betonte Sprecher Ralf Heineken am Dienstag. Eine Gefahr für die Bürgerinnen und Bürger im Südwesten habe es deshalb zu keinem Zeitpunkt gegeben.

Bestätigt wird vom Umweltministerium, dass es sich beim Grund für den Reaktorstopp tatsächlich um ein defektes Brennelement handelt. "Die EnBW hat sich aus Vorsorgegründen für ein kontrolliertes Abfahren der Anlage entschieden und über dieses Vorhaben auch uns als Atomaufsicht informiert", erklärte der Sprecher des vom Grünen-Politiker Winfried Hermann geleiteten Ressorts. Nach Lesart des Umweltministeriums wäre der Kraftwerksbetreiber zu einer entsprechenden Benachrichtigung noch nicht mal verpflichtet gewesen. "Nicht zu melden sind einzelne Brennelemente-Schäden, die über Risse leichte Verformungen nicht hinaisgehen und keinen Hinweis auf systematische Schwachstellen liefern", zitiert Heineken aus der für den Betrieb der Atomanlage geltenden Verordnung. Ausdrücklich weist der Ministeriumssprecher auf eine Presseerklärung hin, in der der Energieversorger das erneute Abfahren der Anlage am 23. Oktober angekündigt hat.

Atomkraftgegner erheben schwere Vorwürfe gegen das Land und den Kraftwerksbetreiber EnBW

Von einem Brennelemente-Tausch wegen eines Defekts allerdings war in der kurzen Notiz keine Rede - weshalb die Atomkraftgegner schwere Vorwürfe gegen das Land und den Kraftwerksbetreiber erheben. "Es darf nicht sein, dass Umweltministerium und EnBW hier vertuschen und verharmlosen", kritisiert der ebenfalls beim Heilbronner Aktionsbündnis aktive Daniel Knoll. Aus Sicht der Atomkraftgegner sind die Grenzwerte für radioaktive Strahlung in der Abluft viel zu hoch angesetzt. "Es ist ein Skandal, dass der Gesetzgeber festlegt, wie viel Krebs ein Atomkraftwerks erzeugen darf", spricht Franz Wagner von einer "amtlichen Verseuchungserlaubnis".

Ins gleiche Horn stößt Wolfram Scheffbuch vom Bund der Bürgerinitiativen. Unklar sei, ob beim Öffnen des Reaktor-Druckbehälters neben der messbaren Gamma-Strahlung auch nur im Labor feststellbare Alpha-Partikel durch den Kamin geblasen worden seien. "Wir sind sehr besorgt, was in Neckarwestheim los ist - zumal von der oft versprochenen Transparenz keine Rede sein kann", beklagt Scheffbuch. Bemerkenswert sei allerdings, dass das für die Stromproduktion im Südwesten angeblich unverzichtbare Kernkraftwerk inzwischen sein dem 21. Septemberg vom Netz genommen sei. "Atomkraft ist nicht saubere, sondern in Wirklichkeit ene sehr schmutzige Energie", sagt er.

06.11.2013 - Mühlacker Tagblatt (Mantelteil Stuttgarter Nachrichten) - Baden-Württemberg - Sascha Schmierer