20-02 - HANIX - 1,3 Milliarden Euro für Kapitel 2, Seite 108

DANIEL KNOLL hat mit seinen Mitstreitern der Energiewende Heilbronn einmal ausgerechnet, was es konkret brauchen und kosten würde, damit Heilbronn die Vorgaben aus dem Pariser Klimaabkommen zum CO2-Verbrauch einhalten kann, um noch eine 67-prozentige Chance zu haben, dass die Erderwärmung nicht über 1,5 °C hinaus geht. Otherwise we are fucked!

Von Daniel Knoll, Fotos: Ulla Kühnle & NASA 1,3 Milliarden Euro für Kapitel 2, Seite 108

PROLOG

Von Gretas Reden bleibt in den 15-Sekunden Instagram-Storys sowas übrig wie »How dare you«, »Our house is on fire« oder »I want you to panic«. Ich habe mir ein paar ihrer Reden komplett angesehen. Nach den Medien-kompatiblen, emotionalen Einleitungen folgt häufig etwas, das mehr nach Uni-Vorlesung klingt. In ihrer Rede in der Nationalversammlung in Paris im vergangenen Juli sagte sie da den Satz: »Ich möchte auf Seite 108, Kapitel 2 im letzten IPCC-Report verweisen.« Im Dezember auf dem Weltklimagipfel in Madrid derselbe Verweis: »In Kapitel 2, Seite 108, des SR1.5 IPCC-Berichts ...«

Scheint wichtig zu sein, was da steht. Also ruhig den Bericht mal googeln und in dem PDF auf Seite 108 gescrollt. Dort findet man eine Tabelle. Darin steht, wie viel CO2 weltweit ausgestoßen werden darf, um die im Pariser Klimaabkommen als Ziel festgelegten 1,5 °C Erwärmung mit einer 67-prozentigen Chance einzuhalten. Für den Stichtag 1. Januar 2018 findet man dort die Zahl 420 Gigatonnen CO2. Jedes Jahr werden 42 Gigatonnen ausgestoßen. Bei diesem 58 Tempo haben wir das also deutlich vor 2030 erreicht. Bei einer Erwärmung über 1,5 °C hinaus steigt die Wahrscheinlichkeit für das Auslösen natürlicher Kipppunkte. Schmilzt beispielsweise der Permafrostboden in der Arktis, wird darin gebundenes Methan frei. Das ist ein noch viel wirksameres Klimagas als CO2. Die Erwärmung, auch weit über 2 °C hinaus, ließe sich nicht mehr aufhalten.

Bei einer linearen Reduktion der CO2-Emissionen haben wir Erdenbürger also noch weniger als 15 Jahre, um auf null zu kommen. Im Pariser Klimaschutzabkommen haben sich die Großkopfeten dieser Welt darauf geeinigt, dass die Entwicklungsländer später mit der CO2-Minderung beginnen dürfen. Begründet wird dies mit ihrem historisch betrachtet geringeren Beitrag zum Klimawandel und ihrer wirtschaftlichen Situation. Wir müssen also schneller sein.

An dieser Stelle wird jetzt meist über Plastikverpackungen und die Smartphones der schulschwänzenden Fridays-for-Future-Schüler debattiert. Beim Aktionsbündnis Energiewende Heilbronn haben wir uns die Mühe gemacht und die Fakten recherchiert und ein Lösungskonzept erarbeitet: 85 % der CO2-Emissionen in Heilbronn sind energiebedingt. Der Rest verteilt sich auf die nicht-energiebedingten Emissionen der Industrieprozesse (7 %, vor allem die chemische Reaktion bei der Zementherstellung) und Landwirtschaft (7 %, zum Beispiel durch chemische Dünger) sowie Abfallwirtschaft (1 %). Klimaschutz dreht sich also um Energie.

In den Statistiken des Bundeswirtschaftsministeriums findet man genau, wofür wir Energie brauchen. 39 % sind mechanische Energie, im Wesentlichen für die Mobilität, aber auch für Motoren in der Industrie. 27 % entfallen für Raumwärme und 24 % für Prozesswärme in der herstellenden Industrie und ein bisschen im Backofen in der Küche. 5 % der Energie wird für Warmwasser benötigt und für die Beleuchtung werden 3 % gebraucht. Die berüchtigten Smartphones und die komplette restliche IT von der Cloud bis zum Streaming verbraucht in Deutschland 2 % der Energie. »Nuhr« schön, wenn man sich über das Wesentliche erregt.

Nach einem Jahr Fridays for Future-Streiks ist klar: Zu größeren Verhaltensänderungen und Einschränkungen sind die meisten Heilbronner für die Zukunft ihrer Kinder nicht bereit. Diesen bleibenden Eindruck hat zumindest die kreischende SUV-Fahrerin bei der Blockade der Gerberstraße durch FFF-Schülerinnen am Rande des letzten globalen Klimastreiks bei mir hinterlassen.

Dann halt nicht. Hier unser Konzept für eine CO2-freie Energieversorgung Heilbronns ohne Komfort-Einschränkungen, umsetzbar in 15 Jahren:

1,3 Milliarden Euro, um Heilbronns Energieverbrauch CO2-frei zu machen

Wie kann man Gebäude ohne CO2-Emissionen im urbanen Raum beheizen? Wärmepumpen entziehen mit dem umgekehrten Kühlschrank-Prinzip der Umgebung Energie. Dafür ist Strom notwendig, um 15.000 kWh Wärmebedarf zu decken, 5.000 kWh Strom. Die Energiekosten sind so nicht höher als bei einer Gastherme. Die Lebensdauer einer bestehenden Heizungsanlage beträgt 15 bis 20 Jahre. Werden ab sofort beim Austausch also keine neuen Gasthermen mehr installiert, erreichen wir das Klimaziel hier ohne zusätzlichen Aufwand.

Die Industrie erzeugt ihren Prozesswärmebedarf schon heute zu einem großen Teil mit Strom. Wo noch mit fossilen Brennstoffen gearbeitet wird, muss das umgestellt werden. Wärmepumpen funktionieren bei dem benötigten Temperaturniveau meist nicht. Mit dem Prinzip des Wasserkochers können aber auch höhere Temperaturen mit Strom erreicht werden. Der Effizienz-Gewinn fehlt dann.

Der US-Volkswirt Tony Seba prognostiziert die disruptive Umstellung des Automobilsektors auf Elektroautos bis 2030. Seba ist kein Öko, er sagt das aus rein wirtschaftlichen Gründen: »Ab 2025 wird es in keinem Markt mehr wirtschaftlich einen Sinn ergeben, ein neues Benzin-Auto zu kaufen.« Wer einmal E-Auto gefahren ist, wird das auch als Komfort-Gewinn sehen. Schon jetzt haben Hersteller E-Autos angekündigt, die in der Anschaffung so viel kosten wie vergleichbare Verbrenner, der Betrieb ist dank wesentlich weniger wartungsintensiver Teile und effizientem Antrieb günstiger. Über 80 % der in Deutschland zugelassenen PKW sind jünger als 15 Jahre. Aber wer will in 10 Jahren noch mit einem veralteten Verbrenner die wenigen verbleibenden Tankstellen suchen? Gute Chancen also hier, das Klimaziel zu erreichen.

Ich höre schon, was ist mit den armen Kindern in den Kobalt-Minen. Kobalt wird schon lange für die Entschwefelung von Dieselkraftstoff verwendet. Warum eigentlich empörte sich darüber niemand? Man kann Kobalt auch aus industriellen Minen ohne Kinderarbeit beziehen. Daher kommt auch die absolut größte Menge auf dem Weltmarkt. Sagt doch eurem Autohändler, dass euch nicht nur die geilen Felgen, sondern auch die sozialen Standards der Fahrzeugherstellung interessieren. Lithium ist übrigens keine seltene Erde, kann an vielen Orten gewonnen werden und der angeblich hohe Wasserverbrauch ist im Vergleich zur Wasserverschmutzung bei der Erdölförderung verschwindend gering.

Warum Wasserstoff-PKW oder synthetische Kraftstoffe nicht besser sind und sich nicht durchsetzen werden? Ein Batterie-Elektrisches-Auto verbraucht 20 kWh pro 100 km. Um den Wasserstoff für ein Brennstoffzellen-Fahrzeug herzustellen, sind 50 kWh Strom pro 100 km nötig. Um synthetischen Kraftstoff für einen konventionellen Verbrenner herzustellen, sind 100 kWh pro 100 km nötig. Statt Rohstoffe für Akkus benötigt man also Platz und Rohstoffe für wesentlich mehr Windräder und Solarparks. Selbst die Wasserstoff-Entwickler und -Forscher sagen daher: Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe sollen nur dort verwendet werden, wo Akkus technisch nicht eingesetzt werden können. Also bei schweren Langstrecken-LKW, der Binnenschifffahrt und dem Luftverkehr. Damit haben wir gerechnet.

All diese Maßnahmen bringen nichts für den Klimaschutz, wenn wir nicht auf 100 % Ökostrom umstellen. Durch das Heizen und Fahren mit Strom wird der Stromverbrauch Heilbronns von 701 Millionen kWh auf 1,7 Milliarden kWh steigen.

Wie kann man 1,7 TWh Ökostrom produzieren?

Der Weinstadt Heilbronn ist ihr größtes Energie-Potenzial sehr bewusst: die Sonne. Wenn man alle Flachdächer, nach Süden, Osten und Westen sowie flach nach Norden geneigten Dachflächen mit Photovoltaik-Modulen belegt (geeignet sind laut einer Laser-gestützten Vermessung 15.000 Gebäude in Heilbronn), kann man damit ein Sechstel dieses Strombedarfs produzieren. Für die Gebäude-Besitzer und -Nutzer ist das wirtschaftlich attraktiv. 5 % und mehr Rendite pro Jahr sind für den Anlagen-Betreiber drin und die Gebäude-Nutzer profitieren von günstigem Sonnenstrom. Wer nicht selbst investieren will, kann sein Dach auch vermieten. Bislang sind allerdings erst 8,5 % der geeigneten Dachflächen belegt. Hier ist in den nächsten 15 Jahren noch richtig viel zu tun.

Mischt man Sonnenstrom, Windkraft an Land und Windkraft auf dem Meer zu je einem Drittel, erhält man einen Energiemix, der relativ gut zum Verbrauch im Tages- und Jahresverlauf passt. Um ein weiteres Sechstel des Energieverbrauchs mit Sonnenstrom zu decken, sind drei Quadratkilometer eng bebaute Solarparks notwendig.

Ist das nicht sehr viel Fläche? Ich stand 2018 bei einer Protestaktion in der Nähe von Köln hinter dem Hambacher Forst an der Tagebaukante. Vor mir ein riesiger Schaufelradbagger, der den sandigen Boden abgräbt, so tief, dass der Kiliansturm mehr als sechs Mal aufeinandergestapelt werden müsste, damit das Kiliansmännle aus dem 400 m tiefen Loch herausschauen könnte. Am Horizont, am anderen Ende des Braunkohletagebaus, die Abraumhalde. So weit weg wie der Heuchelberg vom Wartberg.

Solarpark-Fläche ist keine verlorene Fläche. Bei der Agro-Photovoltaik stellt man die Modulreihen weiter auseinander und lässt beispielsweise Schafe darunter. In heißen und trockenen Sommern wächst auf solchen Feldern sogar mehr als ohne die Beschattung. Auch in normalen Solarparks wachsen viele Wildkräuter und leben Tiere. Laut Studien sogar mehr als auf der durchschnittlichen landwirtschaftlichen Fläche Deutschlands.

Fehlen noch zwei Drittel Strom. Sechs Windparks von der Größe des Harthäuser Waldes erzeugen ein Drittel des berechneten neuen Stromverbrauchs. 38 durchschnittliche Offshore-Windkraftanlagen in Nord- und Ostsee das verbleibende Drittel. Für die Strom-Erzeugung aus Wasserkraft besteht kein Ausbaupotenzial. Die bestehenden Wasserkraftwerke am Neckar erzeugen 2 % des künftigen Stromverbrauchs.

Das genügt noch nicht ganz. Die Energieproduktion ist trotz der Mischung noch nicht exakt im Einklang mit dem Stromverbrauch. Das Stromnetz bleibt aber nur stabil, wenn ständig Produktion und Verbrauch exakt ausgewogen sind. Wir wollten es für Heilbronn genau wissen und haben die dargestellte Situation simuliert. Beim Heilbronner Stromnetzbetreiber kann man den jährlichen Lastverlauf des heutigen Stromverbrauchs herunterladen. Dazu kommt der Lastverlauf der neuen Stromverbraucher Wärmepumpen und Elektro-Fahrzeuge. Für unsere Modellierung sind wir davon ausgegangen, dass E-Autos zum Teil am Arbeitsplatz tagsüber laden, zum Teil nach Feierabend zuhause eingestöpselt werden und einige verteilt über den Tag beispielsweise auf einem Lidl-Parkplatz laden. Alles zusammen ergibt eine neue zeitliche Verteilung des Stromverbrauchs. Dem gegenüber stellen wir den Verlauf der Produktion der drei erneuerbaren Energien Photovoltaik, Wind Onshore und Offshore extrapoliert auf unseren angenommenen Anlagenpark.

Wird mehr produziert als verbraucht, laden wir damit zunächst stationäre Akkus auf. Diese dienen für den kurzfristigen Ausgleich. 20 MW Akkus mit 50 MWh Kapazität würden für Heilbronn genügen. Das können größere Anlagen sein wie die vor ein paar Jahren installierte 5MW »Kraftwerksbatterie«. Diese besteht aus zwei Containern auf dem Gelände des Kohlekraftwerks in Heilbronn. Aber auch viele kleine Speicher, wie sie viele Photovoltaik-Anlagenbetreiber im Keller stehen haben, können das lösen.

Für die langfristige Speicherung ist mehr Kapazität und Leistung nötig. Eine Möglichkeit ist Power-to-Gas Technik. Dabei wird aus Ökostrom Wasserstoff hergestellt und in einem chemischen Prozess zusammen mit CO2 aus der Atmosphäre synthetisches Gas hergestellt. Dieses kann in bestehenden Kavernen im deutschen Gasnetz gespeichert werden. Fehlt es an Strom aus Sonne und Wind, werden zunächst die Akkus abgerufen, ist mehr Energie nötig, wird das synthetische Gas in Gasturbinen wieder in Strom umgewandelt. Dabei wird nicht mehr CO2 frei, als zuvor bei der Herstellung des Gases der Atmosphäre entnommen wurde. Der Prozess ist also CO2-neutral.

Was koschts?

Die Anlagen zur Energieerzeugung und Speicherung kosten 1,39 Milliarden Euro. Alle dargestellten Technologien können wirtschaftlich betrieben werden. Die Investoren erwirtschaften damit also Renditen von 4-5 %. Wir wünschen uns, dass möglichst viel davon von Bürgern und Bürger- Energie-Genossenschaften umgesetzt wird. Dann bleibt das Geld hier. Heute bezahlen wir 30 Cent pro kWh für unseren Strom. Darin sind viele Steuern, Abgaben und Umlagen enthalten. Der eigentliche Einkaufspreis von Strom liegt bei rund 5 Cent. Die EEG-Umlage für die Finanzierung der erneuerbaren Energien (Anteil rund 50 % am heutigen Stromverbrauch) liegt aktuell bei 6,756 Cent. Die dargestellten Erzeugung- und Speicheranlagen verursachen Kosten von 11 Cent pro kWh. Es wird also sogar billiger als bisher.

EPILOG

»Ein Friedensvertrag der Menschheit mit der Natur ist ohne eine globale Sonnenenergiewirtschaft nicht möglich. Wir stehen so sehr unter Zeitdruck, und wir haben andererseits die Chancen einer Sonnenstrategie so greifbar vor uns, dass wir die menschenverachtenden Verschleppungsmethoden derjenigen, die ›nicht tun, was sie wissen‹, nicht mehr hinnehmen werden. Für die Gewinnung der ›Energie des Volkes‹ ist eine Mobilisierung der Energien des Volkes nötig. Eine Sonnenenergie-Revolution. Dazu gibt es keine politische Alternative.« Hermann Scheer, Sonnenstrategie, 1993 (Deutscher Politiker, Preisträger des ›Alternativen Nobelpreises‹ Right Livelihood Award, † 2010).

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