Gottesdienst im Stadtgarten

zum Auftakt der "Endlich Abschalten"-Demo am 21.03.2010

Autor: Pfarrer Ulrich Koring

Warum beginnen wir den Ausflug nach Neckarwestheim mit einem Gottesdienst? Was haben Christen zur Kernkraft zu sagen? Äußern wir unsere persönliche Meinung – wie die Befürworter und Betreiber die ihrige proklamieren?

Gewiss finden wir in der Bibel kein Jesus-Wort zur Atomwirtschaft. Ich würde Sie aber nicht zum Gottesdienst willkommen heißen, wenn die Bibel uns nicht auch heute Impulse geben könnte.

Darum öffnen wir uns jetzt für die Innere Kraft - für Wahrheit und Frieden. Gott sei mit euch
                    als Grund, der euch trägt,
                    als Kraft, die euch bewegt,
                    als Licht, das euch leuchtet. Amen.

Lied:  Gott gab uns Atem, damit wir leben...

Gott, du bist Atem und Licht,
Quelle, aus der wir trinken,
Boden, auf dem wir stehen,
Heimat, in der wir uns deiner Nähe freuen.

Du bist in allem und über allem.
Du gibst uns dein Wort,
Klang deiner Güte,
Melodie deiner Wahrheit.

Hilf uns, deine Schöpfung zu lieben,
alles, was lebt, zu achten
und Schaden von der Erde fernzuhalten.

  1.  Eine Steckdose ist eine geniale Erfindung, noch genialer freilich die Kraft, die durch diese beiden Pole ein Elektrogerät unter Spannung setzt, so dass es zu leuchten oder sich zu drehen beginnt. Was hinter der Steckdose liegt, sehen wir nicht: weder die Wasserturbine noch das Solarmodul noch das Kernkraftwerk.
     
    Einige von uns werden nachher mit dem Zug nach Kirchheim fahren. Ich reise gern mit der Bahn, durchs Neckartal oder auf den Schnellstrecken. Der Schienenverkehr benötigt eine verlässliche Stromversorgung. Aber ist es nötig, dass dieser Strom immer noch aus einem Alt-Reaktor kommt? Das gefällt uns nicht.
     
    In 30 Jahren musste im GKN  419 mal das Notfall-Programm aktiv werden. Bauartbedingt kann das GKN nicht mit neuer Sicherheitstechnik ausgestattet werden. Außerdem hat der Meiler ein Alter erreicht, in dem Leitungen, Ventile und Regeltechnik zu ermüden beginnen.
     
    In den 17 AKWs in Deutschland verzeichnet die Atomaufsichtsbehörde fast 6.000 meldepflichtige Störfälle. Freilich kann man sagen: 6.000 mal haben die Sicherungssysteme funktioniert; das zeigt doch, dass der Betrieb auch in kritischen Momenten beherrschbar ist. Man kann genauso gut sagen: so anfällig ist der Betrieb der Reaktoren. Von Anfang an haben Kernphysiker davor gewarnt, die technischen Probleme und die Folgelasten zu unterschätzen.
     
  2. Atomstrom war das Zauberwort der 60er und 70er Jahre. Er wurde gepriesen als sauber, billig – und in großen Mengen verfügbar.
    Doch noch gibt es kein technisches Verfahren, das es erlauben würde, die radioaktive Strahlung über Jahrtausende hin völlig abgeschirmt zu lagern, bis nach einer halben Million Jahre die Radioaktivität zerfallen ist.
     
    Darüber, dass wir schon mehrmals haarscharf an einem schweren Unfall vorbeigeschrammt sind, freuen wir uns alle. Zugleich haben wir die Sorge, dass es einmal nicht gut ausgeht. Vor allem in den technisch labilen Reaktoren Neckarwestheim und Biblis ist die Gefahr einer nicht beherrschbaren Störung sehr groß.
     
    Verglichen mit einem Wasser- oder Windkraftwerk ist der technische Aufwand eines Atomkraftwerks gigantisch. Es zu betreiben ist nicht nur gefährlich. Der produzierte Strom ist unbezahlbar teuer, wenn man auch die Kosten der Entsorgung auf unsere Stromrechnung umlegen würde - Kosten, die künftige Generationen noch zahlen müssen für den Atom-Strom, den wir bereits verbraucht haben.
     
  3. Heute erinnern wir uns auch an den Reaktor-Unfall vor 24 Jahren in Tschernobyl. Wir denken an die Menschen, die dabei ihr Leben verloren haben, an die 6.000 Soldaten, die beim Einsatz zur Abschirmung des verstrahlten Reaktors ihr Leben verloren haben. Wir denken an Tausende Menschen, die in der Folgezeit an der Strahlung erkrankt und schon gestorben sind. Wir denken an die Kinder, die mit Strahlenschäden geboren worden sind und darunter lebenslang leiden.
     
    Es sollte niemand glauben, Katastrophen von so gigantischem Ausmaß würden sich mit Notfallplänen beherrschen lassen. Die Feuerwehr kann nicht einmal garantieren, dass bei einem Großbrand das Feuer nicht auf benachbarte Gebäude übergreift.
    Weltweit kann keine Versicherung für die Folgeschäden an Leib und Leben aufkommen, weil diese in die Trilliarden gehen. Gegen Rohrbruch und Hagel, Feuer und Diebstahl können wir uns versichern.
    Im Falle eines Unfalls in Neckarwestheim gleich wie in Frankreich oder in Tschechien zahlen wir alle mit unserem Leben und unserer Gesundheit. Der radioaktive fall-out hält sich nicht an Landesgrenzen. Möge es weltweit nicht zu einem neuen Tschernobyl kommen.
     
    Im Gedenken an verstrahlte Menschen, in der Hoffnung, dass kein GAU eintritt, wünschen wir: 
    Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen,
    Gesundheit und Freude sei auch mit dabei.

     
  4. Derzeit gehen zwei gleichlaufende Interessen eine Zweckehe ein: Regierung und Betreiber wollen die Laufzeit verlängern. Statt für viel Geld neue Kraftwerke zu bauen, wie die Atomlobby verkündet, sollen die alten noch 20 Jahre Gewinn bringen. Die Regierung möchte die Hälfte des Gewinns in die Staatskasse lenken, um neue Systeme z.B. Blockheizkraftwerke, zu fördern – ob sie die Millionen erhalten wird?
     
    Längere Laufzeiten senken nicht die CO2-Emission, sie blockieren aber die Weiterentwicklung der Leitungs- und Speichertechnologie, die für die schwankende, von der Witterung abhängige Stromerzeugung mit Wind und Sonne notwendig ist.
     
    Würden weltweit, wie gefordert, 1.000 neue AKWs gebaut, würden die Uranvorkommen nicht reichen, sie zu betreiben. Mit Uran kann man nicht rohstoffsparend umgehen. 80% des Materials bleibt als strahlender Müll zurück. „Ausgebranntes“ Uran ist nur zu 5% recyclebar. Für eine Wiederaufbereitung fehlen die Schnellen Brüter. Hätten wir sie, würde die Gefahr nicht nur im technischen Ablauf steigen, sondern noch viel mehr im Blick auf terroristischen Missbrauch von Plutonium.
     
    Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist die Tochter der militärischen Nutzung der Kernenergie in der Atombombe. Die Reaktor-Technik ist die Vorstufe zur Anreicherung des spaltbaren Materials.
     
    Macht und Geld haben die Kernkraftwerke hervorgebracht. Macht und Geld wollen sie erhalten. Die Kernkraft ist nicht die Technik der Zukunft, sie ist, was sie war, ein Nebenschauplatz des Kalten Krieges: eine Verachtung und Bedrohung des Lebens. Sie ist keine Brückentechnologie, denn sie führt nicht hinüber ins Neuland, sie ist eine Sackgasse. Es kann nur den geordneten Rückzug geben.
     
    Der aus Sonne, Wind und Wasser gewonnene Strom hat inzwischen fast gleichen Anteil am Markt wie der Atomstrom. Erneuerbare Energien sind umwelt- und sozialverträglich, demokratisch und nutzbringend für alle. Darum werden sie zunehmen.
     
    Doch auch nach der Abschaltung aller AKWs dauert das Atomzeitalter noch Jahrtausende an: es wird kein Endlager geben, das nicht überwacht werden muss. Darum halte ich die Kerntechnologie für menschenverachtend. Theologisch ausgedrückt heißt das schöpfungswidrig.
     

Es ist ein altbekanntes Phänomen, dass mit der Dauer der Gewöhnung an eine Gefahr die Sensibilität für die Gefahr abnimmt – im Gegensatz zur mathematischen Wahrscheinlichkeit, der zufolge die Umkehrung, also der Unfall mit jedem Tag wahrscheinlicher wird. Das ist keine betriebstechnische Prognose, aber eine ernstzunehmende mathematische Aussage.
 
Die Religionen der Welt haben diese Sensibilität in ihren Erzählungen verankert. Darin beschreiben sie die Strukturen und Weichenstellungen des Lebens. Sind die Weichen gut gestellt, verläuft das Leben in guten Bahnen. Sind die Weichen falsch gestellt, kommen wir nicht an unserm Ziel an.
 
A    Ein altes Bild der Sensibilisierung für die Grundlagen des Lebens finden wir in der Erzählung vom Turmbau, der alle Menschen unter ein politisches Diktat stellt: wir wollen groß, mächtig und berühmt werden. Unser Turm soll in den Himmel reichen. (800 Meter in Dubai, angeblich seien 1600 Meter Bauhöhe machbar.) Immer noch arbeiten Menschen an diesem verrückten Ziel, während alle Aufmerksamkeit, alle Kraft und alles Geld für die Lösung der globalen Fehlentwicklungen einzusetzen wäre. Die Türme der Gigantomanie haben keinen Bestand. Daran zu bauen richtet nur Unheil an. Der Turm verfällt, die Menschen verstehen einer des anderen Sprache nicht, sie sind in ihrem Egoismus und Größenwahn gefangen.
 
B    Eine andere Erzählung spricht von den Grenzen der Vorsorge. Wir fürchten, wir könnten zu kurz kommen. Wir greifen nach allem, was wir fassen können. Lieber etwas mehr als zu wenig. Wie viel Strom brauchen wir in 30 Jahren? Die großen Stromerzeuger proklamieren eine Stromversorgungslücke, wenn nicht 1.000 neue Kernkraftwerke gebaut würden. Zugleich behaupten sie, die Erneuerbaren Energien könnten niemals den Bedarf decken. Sie haben sich gewaltig verrechnet.
 
Die Atomwirtschaft baut auf einem fatalen Selbstverständnis auf: Wir können alles, und wir machen alles. Was in der Sonne geschieht und was im Erdinneren abläuft, das veranstalten wir in atomaren Fabriken: Energiemangel soll niemals unsere Sorge sein, wir halten die größte physikalische Macht in unsrer Hand. Dabei ist es viel einfacher, die Energie aufzufangen, die uns täglich geschenkt wird. Die ist millionenmal größer als die, die wir atomar produzieren können.
 
Die Befürchtung, die Tagesration falle zu klein aus und für die Zukunft hätten wir keine Versorgungssicherheit, diese Sorge es könnte nicht ausreichen, weil wir es nicht selber machen, erfüllte auch jene Menschen, die Mose durch die Wüste führen sollte.
Die Wüste ist ein Nicht-Produktiv-Land, dort kommt es nicht darauf an, was ich aus mir und aus der Welt machen kann. In der Wüste lerne ich, wer ich bin – ohne dass ich etwas aus mir mache. Dort lerne ich mich selbst anzunehmen, ich lerne, bescheiden zu sein. Nicht meine Vorsorge, sondern meine Dankbarkeit für das, was mir täglich zufällt, steht im Vordergrund.
 
Auf den ersten Blick lässt die Wüste daran denken, dass man dort verhungern und verdursten könnte. Die Geschichte erzählt, dass die Leute sich Sorgen machten um ihren täglichen Bedarf. Täglich hatten sie etwas aufzulesen, um von der Hand in den Mund zu leben.
 
Viele meinten, es müsse mehr sein. Würde denn auch morgen etwas da sein zum Leben? Sie legten sich Vorräte an, doch die waren am nächsten Tag nicht genießbar. Was sie über den Tagesbedarf hinaus horten wollten, verdarb ihnen. Nur einmal die Woche konnten sie für den Sonntag eine doppelte Portion einsammeln, die verdarb nicht. Wir könnten aus dieser Geschichte die Idee der Solarwirtschaft ableiten.
 
C    Die Sensibilität für das Leben wird auch durch die Modellgeschichte von Goliat und David geweckt und befördert. Goliat in seiner einst hochmodernen Rüstung steht für Stolz, Reichtum, Durchsetzung. Der Starke hat aufgrund seiner Stärke jedoch nicht auch das Recht auf seiner Seite.
Goliat, der hightec-Kämpfer, steht auch für festgefahren, unbeweglich, uneinsichtig, brutal.
 
Goliat ist unfähig umzudenken, unfähig, sich an veränderte Umstände anzupassen. Was ihn stark gemacht hat, bereitet seinen Untergang vor. Bis er und seine Leute das erkennen, ist es für ihn zu spät.
 
David verfügt über eine elementare Technik – ein kleiner Stein, im Bachbett aufgelesen, unscheinbar wie ein Sonnenstrahl, genügt.
Während Goliat sein Schwert schwingt, trifft David seine Schwachstelle, sein stockdummes Denken, der Stein trifft - und Goliat fällt.
 
Das Energieprogramm der Zukunft gleicht keinem Turm, sondern einem Netz. Erneuerbare Energie kommt nicht aus gigantischen Anlagen, sondern aus kleinen Quellen, die verbrauchsnah, dezentral, demokratisch fließen. Sie gehören in die Hand der Einzelnen.
 
Lasst uns Ausdauer, Kraft, Phantasie und Verstand gebrauchen,
um die Energie aufzunehmen,
die Sonne, Erde, Wind und Wasser uns schenken.
Dann werden wir keinen Mangel leiden.
Dann wird Goliat fallen.
Dann werden auch unsere Kinder und Enkel Freude am Leben haben, Steine auflesen und ihre Probleme lösen.

Lied:
Soviel Freude hast Du Gott in die Welt gegeben, Sonne , Sterne, Schmetterlinge, Liebe. Blumen, schöne Dinge, dass wir fröhlich leben.
Und du lässt uns mit Verstand schaffen, planen, walten: Krankenhäuser und Maschinen, Wind-, Solarkraft, Straßen, Schienen, diese Welt gestalten.
Manche doch in seinem Wahn, will das Gute meiden: Geldgier, Hass und Eigensinn, Kernkraft, Krieg und Machtgewinn schaffen Not und Leiden.

Fürbitten:

Gott, du begegnest uns in allem,
    was du schöpferisch am Leben erhältst.
Öffne uns die Augen
    für die Schönheit und Vielfalt in der Welt
    und für die inneren Zusammenhänge des Lebens.

Wecke unsere Ohren für das Lied,
    mit dem dich deine Schöpfung lobt,
    und für das Seufzen, mit dem sie klagt -
damit wir erkennen,
    was in unserer Verantwortung steht.

Befreie uns von dem Wahn,
    unersättlich Gewinne zu erwirtschaften,
    die zum Schaden der Natur sind
    und vielen Menschen Leid und Not einbringen.

Hilf uns,
    die Güter der Erde,
    die Lasten der Arbeit,
    die Chancen der Wirtschaft     gerecht zu teilen.

Hilf uns, Lebensformen zu schaffen,
    in denen alle ihre Fähigkeiten einbringen,
    Hilfe abrufen und Werte schaffen können,
    die den Einzelnen und die Gemeinschaft tragen.

In Demut und Zuversicht,
im Licht selbstkritischer, heilender Wahrheit
betrachten wir unser Leben,
wenn wir mit den Worten Jesu
gemeinsam beten:

Vater unser

Segen:

Gott, der Grund des Vertrauens,
        die Quelle der Hoffnung,
        die Lebenskraft der Liebe,
leite euch auf eurem Wege,
stärke euch in Eurem Einsatz,
erhalte euch in Gemeinschaft.

Möget ihr den Frieden in euren Herzen tragen,
    für den ihr miteinander den Weg bereitet.

Möge Gott euch einen klaren Blick geben
    für das Notwendige und Mögliche,
    frische Gedanken und ein reines Herz.
Möge Gott wie der Wind vor euch hereilen
    und euch den Weg eben.

Möge Gott in jedem Lichtfleck sein,
    der sich in euren Herzen spiegelt.

Und bis wir uns wiedersehen,
    halte Gott euch in seiner Hand. Amen.

 

Zur Erinnerung:

Beschluss der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland  am 9. November 2006 zum

Ausstieg aus der Kernenergie

20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wird der Ausstieg aus der Kernenergie erneut zur Disposition gestellt. Die Synode erinnert in diesem Zusammenhang an ihren Beschluss aus dem Jahr 1987, in dem festgestellt wurde:

"Die nicht mit Sicherheit beherrschbaren Gefahren der gegenwärtigen Kernenergiegewinnung haben zu der verbreiteten Einsicht geführt, dass diese Art der Energiegewinnung mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nicht zu vereinbaren ist. Wir müs-sen so bald wie möglich auf andere Energieträger umsteigen."

Dieser Beschluss wurde 1998 von der Synode bekräftigt. Auch heute fühlt sich die Synode verpflichtet, diese Position erneut in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.

Die Synode bittet den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die Bundesregierung darin zu bestärken, am Ausstieg aus der Kernenergie festzuhalten;
ferner zukünftig keine Bürgschaften für den Bau und Export von kerntechnischen Anlagen in andere Länder zu übernehmen.
In der Europäischen Union soll die Bundesregierung darauf hinwirken, dass auch auf europäischer Ebene keine weiteren Kernkraftwerke gebaut werden.

Die Synode bittet die Gliedkirchen weiterhin um einen verantwortlichen Umgang mit Energie. Auch auf ökumenischer Ebene möge die EKD dieses Anliegen deutlich vertreten.

Würzburg, den 9. November 2006
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland