Manuskripte der Ansprachen (1)

bei der Evakuierungsübung von Dr.med. Erwin Müller aus Nürtingen

Liebe Heilbronner bzw. Horkheimer Flüchtlinge,

im Namen und Auftrag des Arbeitskreises Nürtinger Friedenswochen begrüße ich sie herzlich in Nürtingen. In diesem Arbeitskreis sind über 30 Gruppierungen zusammengefasst, die sich alle um die Friedensarbeit kümmern. Ich z.B. gehöre zu der Regionalgruppe der IPPNW,(….)

Wir freuen uns insbesondere darüber, dass Sie keine echten Strahlenflüchtlinge sind, sondern lediglich auf die Folgen eines bedeutenden Störfalles im AKW Neckarwestheim mit ihrer heutigen Aktion hinweisen wollen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Empfang im Ernstfall – wenn tatsächlich über 4.000 Horkheimer als Flüchtlinge hier ankämmen – so freundlich wäre. Denn es wäre sicher nicht einfach, so viele Leute hier unter zu bringen.

Es ist sinnvoll und dankenswert, dass sie sinnfällig auf die Gefahren aufmerksam machen, denen wir ständig ausgesetzt sind. Schließlich leben wir alle in Europa in der Umgebung von Atomkraftwerken, die einen etwas näher dran als die anderen.
Beim GAU von Tschernobyl war neben der direkten Umgebung das 200 km entfernte Gomel in Weißrussland fast gleich stark von radioaktiver Verseuchung betroffen. Und selbst weit entfernte Gebiete haben noch reichlich radioaktiven Fallout abgekriegt, wie z.B. Südbayern, das Allgäu oder Finnland und Schweden.

Kontaminierte Gebiete waren in der ehemaligen UdSSR 160.000 km², in Schweden und Finnland je 12.000 km² und in Österreich 8.000 km².

Zu den Schäden an Menschen möchte ich nur ein Beispiel nennen.
Von den etwa 800.000 Liquidatoren waren nach 20 Jahren 50 – 100.000 gestorben, etwa 500.000 invalide, vorzugsweise mit Krebs und Leukämie, aber auch mit allen möglichen sonstigen körperlichen sowie psychischen Erkrankungen.

Der Umkreis von 10 km um das Atomkraftwerk Neckarwestheim ist somit absolut willkürlich gewählt. Die Erfahrungen aus Tsch. sprechen eine andere Sprache. Dort mussten 135.000 im Umkreis von 30 km evakuiert werden, 400.000 verloren ihre Wohnung und mussten wegziehen. Dabei ist die Gegend von Tsch nur 1/10 so dicht besiedelt wie eines unserer Ballungsgebiete. Dazu kommt, dass das radioaktive Inventar der deutschen AKWs größer ist als das in Tsch der Fall war.
Würden im 10fach dichter besiedelten Rhein-Main-Gebiet 10.000 km² unbewohnbar, also die gleich große Fläche wie in Tsch, dann müssten mehrere Mill. ihre Wohnungen verlassen. Eine geordnete Evakuierung wäre völlig unmöglich.

Ganze Städte und Fabrikanlagen müssten aufgegeben werden, die Menschen verlören ihre Lebensgrundlagen.

Nach fundierten Studien im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ist die Schadenshöhe eines Super-GAU in Deutschland auf 5.000 bis 12.000
Milliarden Euro zu beziffern, und zwar für Gesundheits- Sach- und Vermögensschäden: das ist das 10- bis 20-fache des jährlichen Bundeshaushalts.

Nun sind aber AKWs jeweils nur mit 2,5 Mrd. haftpflichtversichert.
Dieser Betrag deckt höchstens 0,1% der möglichen Gesundheits- Sach- und Vermögensschäden ab. Das heißt, dass die überlebenden Geschädigten nicht mit nenenswerter Hilfe rechnen könnten. Deshalb fordern viele Gruppen immer wieder, dass die AKWs eine volle Haftpflichtversicherung nachweisen müssen, wie sie jeder andere Industriebetrieb und jeder Autofahrer haben muß.

Auch in einem deutschen AKW ist eine Katastrophe, ein SuperGAU zu jeder Zeit möglich. Dies wird von offizieller Seite zugegeben. Denn mit ihren Katastrophenplänen stellen sich die verantwortlichen Ministerien in Bund und Land auf den SuperGAU ein.

Eine Gesellschaft, die sich einreden lässt, ihr Wohlstand hinge von der Atomindustrie ab, und sich einbildet, in guter Nachbarschaft mit AKWs leben zu können, riskiert den Tanz auf dem Vulkan.

Die Konsequenz aus dem gesagten kann also nur heißen:

Der einzig wirksame Schutz vor den Folgen eines kerntechnischen Unfalls ist die Vorbeugung --- und das kann wiederum nur heißen:

Festhalten am Ausstieg aus einer nicht verantwortbaren Technologie! Auf keinen Fall die Laufzeiten der AKWs verlängern!
Ausstieg darf aber nicht heißen:
Ersatz des Atomstroms durch fossile Energie und Vergeuden von Energie, so gedankenlos und rücksichtslos wie bisher.

Ausstieg muß heißen:
Durch schnellen Ausbau der alternativen Energiegewinnung, intelligente Energienutzung und drastische Einschränkung des Energieverbrauchs AKWs überflüssig machen.