Weiteres Gutachten betont Gefahr durch das AKW Neckarwestheim

Der Atomsicherheitsexperte Helmut Mayer kommt zu dem Ergebnis, „dass eine Betriebsgenehmigung für ein Kernkraftwerk mit Heizrohrschäden, wie sie im Atomkraftwerk Neckarwestheim II vorliegen, nicht zu verantworten ist“.

Zwei Gutachten von Atomsicherheitsexperten untermauern die Forderung von Umweltorganisationen, die vier Dampferzeuger im Atomkraftwerk Neckarwestheim II (GKN II) auszutauschen.

Gegen Ende der Jahresrevision des Atomkraftwerks Neckarwestheim II steht das Umweltministerium Baden-Württemberg vor der Entscheidung, ob es das AKW trotz irreparabel geschädigter Dampferzeuger wieder anfahren lässt. Damit würde es sich gegen das von BUND Baden-Württemberg, der Anti-Atom-Organisation ausgestrahlt. und dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) vorgelegte Gutachten des Atomsicherheits-Experten Prof. Manfred Mertins stellen (siehe „Hintergrund“).

Reaktorexperte sieht weiteren Betrieb als zu gefährlich an

Darüber hinaus hat nun ein weiterer Reaktor-Experte in einem zweiten Gutachten ebenfalls schwere Bedenken gegen die Wiederinbetriebnahme des AKW Neckarwestheim II geäußert. Dipl.-Ing. Helmut Mayer ist Dozent für Kraftwerkstechnik und als ehemaliger Betriebsleiter des AKW Biblis ein ausgewiesener Experte an der Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis des AKW-Betriebs. In seiner Expertise kommt er zu dem Ergebnis, „dass eine Betriebsgenehmigung für ein Kernkraftwerk mit Heizrohrschäden, wie sie im GKN II vorliegen, nicht zu verantworten ist“.

Kernaussagen seiner detaillierten Stellungnahme aus dem Blickwinkel der AKW-Betriebsführung sind, neben der Beschreibung der möglichen Auswirkungen von Dampferzeuger-Heizrohr-Leckagen (DEHL):

  • Die rechtzeitige Entdeckung eines Lecks oder Abrisses ist nicht gesichert.
  • Der Prüfbericht des TÜV Nord zur Revision 2018/19 hat Mängel und belegt zugleich die Lücken der Messtechnik.
  • Die Ursachen der massiven Korrosion der Dampferzeuger sind nicht ausreichend verstanden, somit können die bisher ergriffenen Gegenmaßnahmen nicht verlässlich wirken.
  • Die Empfehlungen der Reaktorsicherheitskommission werden nicht eingehalten.

"Rohre können jederzeit abreißen"

Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar kommentiert die Gefahr: „Das Wachstum der Risse lässt sich nicht vorhersagen und die Rohre können jederzeit abreißen. Die Folge kann ein Totalversagen der Sicherheitsbarrieren sein. Jeder einzelne neu gefundene Riss und jede weitere Korrosion zeigt, dass die EnBW die Probleme im AKW nicht im Griff hat und dass der Reaktor immer noch gestört ist. Die Heizrohre in den Dampferzeugern sind bereits so stark angegriffen, dass jederzeit neue Risse entstehen können. In diesem Zustand darf das AKW Neckarwestheim nie wieder in Betrieb gehen.“

Zentrale Abschnitte aus der Zusammenfassung des Gutachtens von Dipl.-Ing. Helmut Mayer:

"Die größte Gefahr für die nukleare Sicherheit ergibt sich während des Störfallverlaufs eines Dampferzeuger-Heizrohrlecks. Er ist der komplizierteste aller Kühlmittelverluststörfälle, da er sich innerhalb eines Dampferzeugers und somit zwischen den beiden komplexen Hauptsystemen Reaktorkühlkreislauf und Sekundärkreislauf abspielt. Einige der für die Beherrschung des Störfalles erforderlichen Funktionen konnten nie unter Realbedingungen geprüft werden. Durch das defekte Heizrohr strömt radioaktives Kühlmittel unter Umgehung des Sicherheitsbehälters in den Sekundärkreislauf und wird teilweise an die Umgebung freigesetzt. Im weiteren Verlauf kehrt sich die Strömungsrichtung um und nicht aufboriertes Deionat (Speisewasser des Sekundärkreislaufs) dringt in den Reaktorkühlkreislauf ein und führt zur Steigerung der Reaktivität.

Ein enormes nukleares Risiko entsteht, wenn während des Störfallverlaufes die Hauptkühlmittelpumpen ausfallen. Risiko ist die Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit den möglichen Auswirkungen. Die hohe Wahrscheinlichkeit einer solchen Zusatzstörung ist unbestritten, zumal ein Betrieb dieser Pumpen bei realen Störfallbedingungen nicht getestet werden kann. Bei einem Heizrohrleck wird der Primärdruck schnell an den Sekundärdruck angeglichen, um den Übertritt von radioaktivem Kühlmittel auf die Sekundärseite und somit an die Umgebung zu minimieren. Deshalb, und aus vielen weiteren Gründen, wie z. B. beim Notstromfall, der gemäß kerntechnischem Regelwerks bei jedem Störfall berücksichtigt werden muss, können diese Pumpen ausfallen oder sogar automatisch abgeschaltet werden. Die Auswirkungen können katastrophal sein.

[...]

Aus der Verknüpfung mehrerer Stellungnahmen und Erkenntnisse von Institutionen, die für die nukleare Sicherheit in Deutschland mitverantwortlich sind, ergibt sich eindeutig, dass bei einem Dampferzeuger-Heizrohrleck ein nicht beherrschbarer, schwerer Kernkraftwerksunfall nicht ausgeschlossen werden kann.

Als Fazit dieser Betrachtungen ergibt sich, dass eine Betriebsgenehmigung für ein Kernkraftwerk mit Heizrohrschäden, wie sie im GKN II vorliegen, nicht zu verantworten ist."

Hintergründe

Der Gutachter: Dipl.-Ing. Mayer hat viele Jahre in einem Kernkraftwerk Störfälle analysiert, in Zusammenarbeit mit einem Kollegen und der Kraftwerksunion die ersten Störfall-Betriebshandbücher generalüberarbeitet, Reaktoroperateure geschult und am Simulator trainiert, Betriebsstörungen in der Realanlage erlebt, Betrieb, Stillstände und Revisionen geplant und schließlich den Block B des Kernkraftwerks Biblis geleitet. Zudem hat er bei der Vorgängerversion der heutigen IAEA Safety Standards mitgewirkt.

Der Antrag: BUND Baden-Württemberg, der Anti-atom-Organisation ausgestrahlt. und dem Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) reichten am 19.06.2020 beim Umweltministerium Baden-Württemberg einen Antrag auf Entzug der Betriebserlaubnis des Atomkraftwerks Neckarwestheim II ein, behelfsweise auf Untersagung des Betriebs ohne vorherigen Austausch der 4 defekten Dampferzeuger.

Wir begründeten den Antrag unter anderem mit zwei Kernaussagen eines Gutachtens des Atomexperten Herrn Prof. Mertins.

  • Die Dampferzeuger sind irreparabel geschädigt.
  • Ein AKW darf mit geschädigten Dampferzeugern nicht betrieben werden.

Aus dem Gutachten ergibt sich, dass das Atomkraftwerk Neckarwestheim mindestens seit der Revision 2018 rechtswidrig betrieben wurde.

Zusammenfassend ergänzen sich nun beide Gutachten: So belegt Prof. Mertins die Rechtswidrigkeit, und Dipl.-Ing. Mayer belegt die Unverantwortbarkeit.

Download des Gutachtens von Dipl.-Ing. Helmut Mayer: