Atomstaat BaWü: Formalrecht siegt über Verantwortung und Moral

erstellt am: 31.10.2014 • von: Franz • Kategorie(n): AKW-Stillegung und Abriss, Allgemein, Anti-Atom, KWO Obrigheim

Gruen angemalte AKWs Lager und Transporte sind sicherGestern urteilte der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, dass alle Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der vom baden-württembergischen Umweltminister erteilten 2. Abrissgenehmigung für das AKW Obrigheim aus formalrechtlicher Sicht unbedeutend sind.

Das ist ein schwarzer Tag und bahnt die weitere massive Freisetzung von Radioaktivität durch die Abriss- und „Freimess“-Handlungen.

Link: Presseerklärung des Gerichts

Link: Homepage der Initiative AtomErbe Obrigheim

Link: Homepage der AG AtomErbe Neckarwestheim

Peter Reinhardt von der „Heilbronner Stimme“ und dem „Mannheimer Morgen“ schrieb gestern und heute Artikel und Kommentare, die die Problematik und den Prozess völlig verzerrt darstellen.

Hier ein klarstellendes Schreiben an ihn:

Sehr geehrter Herr Reinhardt,

seit langem beobachte ich in Ihren Texten einen sehr schiefen Blickwinkel immer dann, wenn es um Differenzen zwischen Bürgern einerseits und Behörden oder Unternehmen andererseits geht, egal ob das Thema S21, Atomkraft oder anderes ist. Behörden und Unternehmen haben bei Ihnen einen Vertrauensvorschuss, Bürger werden von Ihnen lächerlich gemacht.

Gerade jetzt wieder besonders krass in Ihren beiden Berichten und Kommentaren zum Obrigheim-Abriss-Prozess (Heilbronner Stimme und Mannheimer Morgen).

Behörden und Unternehmen haben durch Geld und Manpower viel mehr Möglichkeiten, Bürger machen alles in Ihrer Freizeit und auf eigene Kosten. Das ist schon eine schlechte Ausgangsposition. Dass Sie aber als Journalist auf die Blenderei des Umweltministeriums herein gefallen sind, ist schon sehr schade. Ich vermisse eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema und könnte Ihnen in den Texten viele Fehler nachweisen.

Es fängt damit an, dass Sie Herrn Untersteller als Kernkraftgegner bezeichnen, und ebenso den Anwalt des UM. Herr Untersteller ist sicher kein Atomgegner mehr, sondern er hat sich maximal der Tatsache untergeordnet, dass die Landesregierung dank Mappus selbst zum Betreiber der AKWs in Baden-Württemberg geworden ist. Er fährt ganz klar eine Linie, die mindestens zu 90% auch von Frau Gönner gefahren wurde. Und der Anwalt kann auch kein Atomgegner sein, auch wenn es natürlich für Verfechter einer Sache immer eine Verführung ist, zur Verstärkung ihrer Anliegen zu behaupten, eigentlich seien sie ja gegen etwas, aber trotzdem müsse man für die Sache sein.

Da vermisse ich völlig Ihre journalistische Distanz.

Die Kläger vor dem VGH haben keine Anhörung verschlafen, denn es gab keine. Das Umweltministerium hatte damals, in der auf Jahrzehnte hinaus wichtigsten Angelegenheit, zu einem ganz unerwarteten Zeitpunkt lediglich mit einer „Öffentlichen Bekanntmachung“ mit kleiner Reichweite auf die Auslegung der Unterlagen hingewiesen. Ansonsten alles möglichst geräuschlos abgewickelt. „Fehler“ der Kläger war nur, diese eine einzige Information übersehen zu haben.

Da braucht es überhaupt nicht Ihre suggestiven Spekulationen über erst nach Fukushima entstandene Ängste (und selbst wenn, wo wäre dabei das Problem?).

Außerdem haben Sie auch in keiner Weise verstanden, dass es ein bewusst in das Atomrecht hinein konstruierter oder sogar erst nachträglich hinein interpetierter Webfehler ist, einerseits mehrere rechtlich unabhängige Genehmigungsverfahren zu machen, andererseits UVP und Öffentlichkeitsbeteiligung angeblich unfassend nur bei der 1. Genehmigung vorzusehen. Das ist ein Rechtsmissbrauch, dem der Richter sich leider angeschlossen hat.

Ich wundere mich sehr, dass Sie voll auf die falsche Behauptung abfahren, ein schnellerer Abriss reduziere die Gefahren, Es gibt sehr viele Gründe anzunehmen, das Gegenteil sei der Fall. Denn es ist ganz klar: die Radioaktivität ändert sich nicht durch den Abriss, nur deren Verteilung.

Und da jede Handhabung eine mögliche Freisetzung von Radioaktivität beinhaltet, gibt es auch in den offiziellen Richtlinien des Atomrechts den anderen Weg, das AKW erst einige Jahrzehnte zu konservieren, um erst dann an den Abriss zu gehen (offiziell unzutreffend „sicherer Einschluss“ genannt).

Es gibt also kein Paradox, als Atomgegner gegen die jetzige Form des Abrisses zu klagen, sondern es ist nur konsequent: wer schon immer für die Minimierung der Risiken war, der wird es auch gerade beim gefährlichen Abriss ebenso sein. Wer aber wie Betreiber und Umweltministerium auf der alten und bekannt falschen Ideologie beharrt, was unter Grenzwerten liege, sei nicht gefährlich, der wird es auch beim Abriss an der erforderlichen Vorsicht mangeln lassen, ja er wird sogar jedes Schlupfloch nutzen, Radioaktivität billig loszuwerden. Genau das ist ja auch entscheidender Teil des Abrisses: Radioaktivitätsfreigabe in die Luft, in das Wasser und per LKW in alle Welt, „freigemessen“, aber dennoch strahlend.

Auch Sie verbreiten den falschen Eindruck, nur der offizielle Atommüll sei radioaktiv, der Rest harmlos. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist auch auf der Homepage des Umweltministeriums nachzulesen, dass das „Freimessen“ radioaktives Material juristisch zu nicht radioaktivem Material macht. Physik und Biologie wissen davon aber nichts. Es wird bewusst in Kauf genommen, dass die Bürger durch das „Freimessen“ im Jahr eine zusätzliche Strahlenbelastung bis in den „Bereich von 10 µSv“ bekommen dürfen, das können laut UM dann auch z.B. 20 µSv sein.

Die Internationale Strahlenschutzkommission (bekannt atomfreundlich) schätzte 2007 die gesundheitlichen Folgen einer tatsächlichen Belastung von 10µSv pro Jahr so ein:

  • jährlich 5,5 bis 55 Krebstote pro 10.000.000 Menschen
  • plus nicht tödliche Krebserkrankungen in ähnlicher Größenordnung
  • plus ein Mehrfaches an NichtKrebserkrankungen wie HerzKreislaufErkrankungen und Stoffwechselstörungen

Darum geht es: bewusstes Inkaufnehmen dieser Zahlen von Gesundheitsschäden.

Leider haben Sie dazu beigetragen, diese Infos und Gefahren ins Lächerliche zu ziehen.

Man sollte vorbeugen, und nicht wie die Vattenfall-Managerin Frau Welte als Vertreterin der deutschen Strahlenschutzkommission im Juli vor der Infokommission in Neckarwestheim  sagen müssen: Fukushima hat uns gezeigt, dass wir jahrzehntelang einen Fehlern machten: wir glaubten, das Unwahrscheinliche werde nicht eintreten.

Nachtrag:

Quelle Umweltministerium Baden-Württemberg:
Freigabe ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 15 StrlSchV ein „Verwaltungsakt, der die Entlassung radioaktiver Stoffe sowie beweglicher Gegenstände, von Gebäuden, Bodenflächen, Anlagen oder Anlagenteilen, die aktiviert oder mit radioaktiven Stoffen kontaminiert sind und die aus Tätigkeiten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a, c oder d stammen, aus dem Regelungsbereich a) des Atomgesetzes und b) darauf beruhender Rechtsverordnungen sowie verwaltungsbehördlicher Entscheidungen zur Verwendung, Verwertung, Beseitigung, Innehabung oder zu deren Weitergabe an Dritte als nicht radioaktive Stoffe bewirkt.“
(http://um.baden-wuerttemberg.de/de/umwelt/kernenergie-und-radioaktivitaet/ver-und-entsorgung/radioaktive-abfaelle/freigabe-schwach-kontaminierter-abfaelle/)

Quelle Vortrag von Frau Welte:
„Mit Reaktorunfällen muss unabhängig von der berechneten Eintrittswahrscheinlichkeit gerechnet werden!“
„Nukleare Unfälle finden statt: auch wenn wir uns um einen perfekten Betrieb der Anlagen bemühen, können wir niemals darauf vertrauen, dass wir absolut erfolgreich sind. Und wir können nicht erwarten, dass die Bevölkerung es glaubt, dass wir erfolgreich sind. Wir müssen einräumen, dass Menschen Fehler machen, individuell und auch kollektiv.“(WNA 2011)
„Die Festlegung des für die Notfallplanung zugrundeliegenden Unfallspektrums sollte sich nach Auffassung der SSK künftig stärker an den potenziellen Auswirkungen als an der berechneten Eintrittswahrscheinlichkeit von Unfällen orientieren.“ (neue SSK-Empfehlung zu Planungsgebieten im Notfallschutz)
(http://www2.um.baden-wuerttemberg.de/servlet/is/59484/)

Gutachten, warum die Freigabe radioaktiver Stoffe gleich mehrfach rechtswidrig ist (Autor: Wolfgang Neumann, intac, für den BUND):
http://atomerbe-neckarwestheim.de/artikel/72-bund-studie-zu-den-problemen-der-freigabe-von-schwach-radioaktiven-stoffen


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