Eine heute von Greenpeace vorgestellte Studie zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für schwere Unfälle in einem Atomkraftwerk größer ist als bisher angenommen. Atomaufsichten und Wissenschaft gehen bei der Einschätzung des Risikos von mangelhaften Sicherheitsanalysen aus.
Die Studie deckt erhebliche Mängel in der sogenannten Probabilistischen Risiko-Analyse (PRA) auf. Diese wird unter anderem dazu genutzt, Unfallwahrscheinlichkeiten zu ermitteln. Erstellt wurde die Studie vom Beraterbüro cervus nuclear consulting unter der Leitung von Dr. Helmut Hirsch.
Was diese Risiko-Analyse mit der Atomkraft in Deutschland zu tun hat, erklärt Heinz Smital, Atomexperte von Greenpeace: „Atomkraftwerke dürfen in Deutschland nur betrieben werden, weil die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall als absolut gering erachtet wird. Grundlage dafür ist die PRA. Doch die ist fehlerhaft.“
So müsste der Zeitabstand zwischen Kernschmelzunfällen laut PRA in Jahrhunderten zu messen sein. Die Realität sieht deutlich anders aus: In den letzten 30 Jahren haben sich fünf Kernschmelzunfälle ereignet. Damit ist die PRA für AKW nicht zuverlässig. Greenpeace fordert deshalb, die Zahlen dieser Methode im Umgang mit Nuklearanlagen nicht mehr zu verwenden.
Entscheidende Risikofaktoren für Atomunfälle werden nicht berücksichtigt
Die Greenpeace-Studie zeigt anhand von fünf Beispielen aus westlichen Atomreaktoren – unabhängig von der Katastrophe in Fukushima – wie das atomare Risiko in der PRA systematisch unterschätzt wird. Mehrfachausfälle von Sicherheitssystemen und Altersvorgänge in einem Atomkraftwerk werden beispielsweise nur unzureichend berücksichtigt. Terror- und Sabotagehandlungen können mathematisch nicht in der PRA erfasst werden – obwohl die Gefahr real ist.
Ebenso wird komplexes menschliches Fehlverhalten weitgehend ausgeblendet. Schaut man aber den schweren Reaktorunfall in Fukushima an, so zeigt sich, dass gerade das Versagen von Betreiber und Aufsichtsbehörde entscheidend war. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Tschernobyl: Auch dort waren menschliche Fehler mitverantwortlich für das Unglück.
„Die PRA kann bei einem einzelnen AKW die Sicherheitsmängel aufdecken“, sagt Heinz Smital. „Die Gefahr, die der Gesellschaft durch Atomkraft droht, ist aber weitaus größer als die Risiken, die die PRA ermittelt.“
Greenpeace fordert daher einen schnelleren Ausstieg aus der Atomkraft bis 2015 in Deutschland. Auch im Ausland muss die Bundesregierung auf ein Ende der Atomkraft dringen.
Quelle: Greenpeace.de, die gesamte Studie kann hier bei Greenpeace heruntergeladen werden.
Im Fazit der Studie werden die Untersuchungsergebnisse u.A. im Hinblick auf Neckarwestheim 2 beschrieben:
[ab Seite 55] Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Studie ist, ob Reaktorunfälle mit sehr hohen und frühzeitigen Freisetzungen auf der Grundlage von Ergebnissen probabilistischer Risikostudien (PRA) praktisch ausgeschlossen werden können. „Praktisch ausgeschlossen“ wird dabei wie in Abschnitt 1 dargelegt verstanden – also im Sinne von entweder physikalisch unmöglich, oder mit einem hohen Grad von Vertrauen als extrem unwahrscheinlich anzusehen.
Zweifellos sind schwere Unfälle nicht physikalisch unmöglich. Dies zeigen schon die Darstellungen möglicher Unfallabläufe in Abschnitt 4; dazu kommen noch Unfälle aufgrund von Einwirkungen von außen, z. B. durch wetterbedingte Faktoren (vgl. Abschnitt 3.5), auslegungsüberschreitende Erdbeben oder Terrorangriffe.
PRA zeigen, dass die zu erwartende Häufigkeit schwerer Unfälle sehr gering ist – gemessen an der alltäglichen Erfahrung und auch an anderen Bereichen der Technik. Wie in Abschnitt 1 erwähnt, liegt die Häufigkeit eines Unfalles mit sehr hohen und frühzeitigen Freisetzungen (Erwartungswert) für eines der neuesten deutschen Kernkraftwerke (GKN-2) bei etwa 2,5×10-7/a. Ob dieser Wert als „extrem unwahrscheinlich“ interpretiert werden kann, ist fraglich. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass eine Gruppe von großen europäischen Elektrizitätsversorgungsunternehmen (EVUs) für neue Reaktoren als probabilistischen Zielwert für Unfälle mit frühzeitigen oder sehr großen Freisetzungen den Wert von 1×10-7/a aufgestellt hat [EUR 2001].
Wichtiger ist die Frage, inwieweit das Kriterium eines hohen Grades an Vertrauen zutrifft. Die in PRA ermittelte Häufigkeit eines schweren Unfalles ist mit Unsicherheiten behaftet. Nur ein Teil dieser Unsicherheiten kann zahlenmäßig ausgedrückt werden (siehe Abschnitt 2). Diese teilweise Quantifizierung kann z.B. durch Angabe von Fraktilen erfolgen. Das 95%-Fraktil gibt jenen Wert an, unter dem der (unbekannte) tatsächliche Wert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt. Dieser Wert ist also konservativ und verdient höheres Vertrauen, wenn es darum geht, auf der sicheren Seite zu sein, als der Erwartungswert. Das 95%-Fraktil für die Häufigkeit eines Unfalles mit sehr hohen und frühen Freisetzungen für GKN-2 liegt etwa um den Faktor 4 höher als der Erwartungswert, bei 1×10-6/a – somit eindeutig jenseits des Bereiches „extrem unwahrscheinlich“. Bei älteren deutschen Kernkraftwerken sind noch höhere Werte zu erwarten.
Hinzu kommen die Unvollständigkeiten und Unsicherheiten von PRA-Ergebnissen, die nicht zahlenmäßig fassbar sind. Sie bewirken, dass auch ein berechnetes 95%-Fraktil letztlich keinem hohen Grad an Vertrauen entsprechen kann.
Einige der wichtigsten Faktoren, die in einer PRA nicht bzw. nicht ausreichend berücksichtigt werden können, wurden in den Fallstudien der vorliegenden Studie herausgearbeitet. Dabei handelt es sich um:
Unerwartete Belastungen durch interne Vorgänge
- Schlechte SicherheitskulturGemeinsam verursachte Ausfälle
- Probleme an der Schnittstelle von Anlagen- und Bautechnik
- Unvorhergesehene Einwirkungen von außen
Alle Fallstudien beziehen sich auf Ereignisse, die sich in den letzten Jahren abgespielt haben (2001 – 2009) – also lange nachdem die Lehren aus den Unfällen von Three Mile Island (1979) und Tschernobyl (1986) gezogen und umgesetzt wurden. Zwei der Ereignisse sind in deutschen Kernkraftwerken eingetreten, je eines in einem Kernkraftwerk in Frankreich, Schweden und den USA. Es ist somit keinesfalls zulässig, unter Berufung auf die Ergebnisse probabilistischer Risiko-Studien Unfälle in Kernkraftwerken, die mit sehr hohen und frühzeitigen Freisetzungen verbunden sind, praktisch auszuschließen.
Darüber hinaus könnte mit den Ergebnissen von Risikostudien für deutsche Kernkraftwerke, selbst wenn von den Unvollständigkeiten und dem nicht zahlenmäßig erfassbaren Teil der Unsicherheiten abgesehen würde, der praktische Ausschluss derartiger Unfälle nicht begründet werden. Die Durchführung von Risikostudien für Kernkraftwerke ist grundsätzlich sinnvoll. Derartige Analysen können u.a. zu einem besseren Verständnis des Anlagenkonzeptes und der Identifizierung von Schwachstellen beitragen und bei der Bewertung von Nachrüstungen sowie bei Vergleichen zwischen Anlagen hilfreich sein. Das zahlenmäßige Gesamtergebnis einer PRA – die berechnete zu erwartende Häufigkeit von Kernschmelzunfällen, sowie von Unfällen mit sehr hohen und frühzeitigen Freisetzungen – darf jedoch lediglich als grober Risiko-Indikator verstanden werden, und nicht als belastbare Angabe für die tatsächliche Wahrscheinlichkeit derartiger Unfälle. Diese tatsächliche Wahrscheinlichkeit ist prinzipiell nicht ermittelbar. Im Rahmen eines vorsichtigen, konservativen Vorgehens muss angenommen werden, dass sie tendenziell deutlich über den von PRA als Ergebnissen gelieferten Zahlenwerten liegt.